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| Bild: © n.v.

Das vergessene Drogen-Paradies: Argentinien wächst zum Transitland heran

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Er stellte sich den Polizisten als Autohändler vor. Schauplatz war ein unscheinbares Nudelrestaurant in Pilar, nördlich von Buenos Aires. Der Mann, der sich sonst mit bis zu 8 Leibwächtern umgab, war schutzlos: Von seiner Entourage war nur sein Chauffeur bei ihm. Die Festnahme ging schnell vonstatten: Henry de Jesús López Londoño – genannt „Mi Sangre“ (mein Blut) – ist seit November diesen Jahres nun in polizeilichem Gewahrsam. Als die Nachricht bekannt wurde, unterbrachen die Fernsehsender ihr Programm.

Jahrelang war er einer der meistgesuchtesten Bosse der Drogenmafia gewesen, ihm wurden Verbindungen zu kolumbianischen Paramilitärs und dem berüchtigen mexikanischen Drogenkartell „Los Zetas“ nachgesagt. Mi Sangre stammt aus einem Armenviertel der kolumbianischen Stadt Medillín, schon bald wurde er Kopf eines paramilitärischen Verbandes, die sich die „Urabeños“ nannten, und kontrollierte den kompletten Drogenhandel. Irgendwann wurde ihm der Fahndungsdruck zu groß, er beschaffte sich sieben illegale Pässe und ließ sich schließlich in einem Land nieder, in dem er sich sicher fühlte, in dem er seiner Meinung nach kaum gefasst werden konnte: Argentinien.1

Die Causa Mi Sangre ist kein Einzelfall. Schon in den vergangenen Monaten und Jahren kam es in Argentinien zu einer Vielzahl an Zwischenfällen, die mit dem Drogenhandel in Verbindung stehen. Hier eine Chronologie der wichtigsten Ereignisse:

  • Juni 2012 entdecken Sicherheitskräfte zufällig ein Schiff, das in Seenot geraten war. Als sie ankamen, konnten sie nicht nur feststellen, dass ihnen die Besatzung entwischt war, sondern auch 500 kg reinstes Kokain in Beschlag nehmen.
  • Anfang 2012 erschnüffeln Drogenhunde Kokain in einem Sanitätsjet – insgesamt stolze 944 kg.1
  • Im April 2012 wird ein hochrangiger Capo, Gustavo Adolfo Garcia Medina, dingfest gemacht. Mit ihm gelangen 280 kg Kokain in polizeiliche Hände.2
  • Im gleichen Monat wird die Leiche von Héctor Jairo Saldarriaga – genannt „der Dolch“ – entdeckt. Der ehemalige Leibwächter hatte seinen kolumbianischen Drogenboss, den berüchtigten „El Loco“, hintergangen.3 „El Loco“ wird Monate später festgenommen.
  • April 2011 läuft der Polizei der Geschäftsmann Ignacio Álvarez Meyendorff ins Netz. Heute geht man davon aus, dass er für den Schmuggel von zahlreichen Tonnen Kokain verantwortlich war.4
  • Im Mai 2010 dominiert ein anderer Fall die Schlagzeilen: Angie Sanclemente Valencia, zuvor als Topmodel bekannt, erweist sich als Kopf eines Drogenrings.5

Die Anzahl an Festnahmen und Verurteilungen von zumeist ausländischen Drogenakteuren häufen sich. Auch wenn es die Regierung nicht wahrhaben will: Schon längst haben die Drogenkartelle die paradiesischen Zustände in Argentinien entdeckt.

Die Gründe sind zahlreich. Alejandro Corda, Universitätsdozent in Buenos Aires, meint, ein Grund sei die geographischen Lage – Argentinien grenzt an Bolivien und Paraguay. Auch würde es den Drogenbanden sehr leicht gemacht, sich im Land festzusetzen, sowohl finanziell als auch in Hinblick auf den heimischen Drogenmarkt. Kapazitäten, um Aktionen der wichtigen Drogenbosse und Organisationen vorauszuahnen, gäbe es nicht. Gepaart mit der Unerfahrenheit im Drogenkampf würde dies Argentinien sehr attraktiv machen.6

Edgardo Buscaglia, ebenfalls Universitätsdozent, fügt an: „Es sind alle Voraussetzungen gegeben. Die Wahrscheinlichkeit einer Anklage ist minimal. Die Behörden verfügen über keine Mittel, um solche komplexen Verbrechen aufzuklären, auch, weil sie kaum international kooperieren.“5

Schließlich spricht er das vielleicht größte Problem an: Die Korruption. Erst vor wenigen Wochen war der Polizeichef der Provinz Santa Fé, Hugo Tognoli, zurückgetreten. Mittlerweile wurde er verhaftet: Obwohl er einst Leiter der Antidrogen-Division gewesen war, war er tief in den Drogen- und Menschenhandel verwickelt. Es wird nun gegen bis zu 200 Beamte ermittelt. Richterin Laura Cosidoy sagt unmissverständlich: „Dass es ein so großes Angebot an Drogen gibt, liegt daran, dass die Polizisten kassieren, um dafür wegzuschauen.“ Die Verbindungen seien schon vor vielen Jahren geknüpft worden, heute gäbe es einen regelrechten Krieg zwischen den Polizeikräften, um ihren jeweiligen Einfluss auf bestimmte Territorien zu vergrößern.1

Auch Statistiken belegen, dass Argentinien mehr und mehr zum Transitland verkommt: Zwischen 2002 und 2009 hat sich die Menge an beschlagnahmten Kokain verachtfacht.7.  Im letzten Jahr wurden 6,3 Tonnen Kokain und 96,6 Tonnen Marihuana konfisziert  – Rekordwerte. Man geht jedoch davon aus, dass diese Mengen nur einen Bruchteil ausmachen. 2010 wurden angeblich 70 Tonnen Kokain durch Argentinien geschafft.8 Organisiert wird der Export durch Kartelle aus Kolumbien und Mexiko, den Inlandbedarf decken Drogenhändler aus Kolumbien, Paraguay und Peru.4

Besonders zu Gute kommt den Händlern die offene Nordgrenze. Bis heute wird diese nicht per Radar überwacht. Dabei wäre das dringend nötig: Schätzungen zufolge existieren etwa 1500 geheime Schmuggelrouten, alleine 750 davon nach Bolivien. Insgesamt übernehmen 120 Kleinflugzeuge den Transport, sie können mit bis zu 600 kg beladen werden.9

Zu allem Überfluss wird auch ein erhöhter Konsum festgestellt, auch wenn etwa der Prozentsatz an Kokainkonsumenten – 0,81% – noch im Mittelmaß liegt.10. Die Tendenz ist jedoch stark steigend. Besonders beliebt ist die Billigdroge „Paco“. Das Rauschgift, das aus Kokainabfallprodukten hergestellt wird, floriert in den Armenvierteln.

Die argentinische Regierung unternimmt dagegen freilich – gar nichts. Sie präsentiert sich unentschlossen, ein echtes Problem wird dementiert, das Thema gar tabuisiert. Das liegt auch daran, dass sie im Moment mit anderen Problemen zu kämpfen hat. Die Arbeitslosigkeit steigt in ungeahnte Höhen – allein 21,2% der Jugendlichen haben keinen Job.11 Dabei ist gerade das problematisch: 54% aller Drogenhändler in Argentinien sind nämlich arbeitslos.7.

  1. Gastland des Drogenbosses – Frankfurter Allgemeine Zeitung [] [] []
  2. L’Argentine, nouveau havre des trafiquants de drogue latino-américains? – Observateur – Französisch []
  3. Once Just a Stopover for Drug Traffickers, Argentina Has Now Become a Destination – New York Times – Englisch []
  4. Exil der Drogenbosse: Argentiniens gefährliche Gäste – DiePresse.com [] []
  5. Once Just a Stopover for Drug Traffickers, Argentina Has Now Become a Destination – New York Times – Englisch [] []
  6. L’Argentine, nouveau havre des trafiquants de drogue latino-américains? – Observateur – Französisch []
  7. Argentina mantiene un alto consumo de drogas, según un informe de la ONU – Infobae – Spanisch [] []
  8. 2011 INCSR: Country Reports – Afghanistan through Costa Rica – US Department of State – Englisch []
  9. Narcotráfico en Argentina – 26noticias – Link nicht mehr verfügbar []
  10. World Drug Report 2012UNODC – XLS-Datei – Englisch []
  11. CIA – The World Factbook – Argentina – CIA – Englisch []

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