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Die Banlieues von Marseille – Drogenkrieg in einer europäischen Metropole

| Bild: © n.v.

Meldungen über schwer bewaffnete Drogengangs und Wohngebiete, die der Kontrolle krimineller Banden unterliegen, werden mit brasilianischen Favelas, dem Drogenkrieg in Mexiko oder afrikanischen Metropolen in Verbindung gebracht. Aber auch in den Banlieues von Marseille, den ärmeren Wohngebieten vornehmlich im Norden der Stadt, scheint die Polizei machtlos gegen die zunehmende Gewalt. In diesem Jahr sind bereits über 20 Morde auf den Kampf rivalisierender Gangs zurückzuführen. Diese Zahl ist zwar gering im Vergleich zu den brasilianischen und mexikanischen Großstädten, in denen 20 Morde innerhalb weniger Tage geschehen, zeigt aber eine traurige Entwicklung für die europäische Kulturhauptstadt 2013 auf.

Zeitungen berichten immer wieder von Gewalttaten zwischen den vielen Drogengangs bis hin zu regelrechten Hinrichtungen. Die Berichte erinnern an Filmszenen. Erst vor einem Monat wurde ein Dealer in seinem Auto an einer roten Ampel erschossen. Seine Freundin auf dem Beifahrersitz überlebte. In einem anderen Fall wurden drei junge Männer von einem plötzlich kommenden Auto von der Straße abgedrängt und aus einem weiteren Auto angegriffen. Nur einer der drei Insassen überlebte den Überfall. Ein Mann wurde gar in einem Straßencafe von mehreren vermummten Angreifern niedergeschossen. 1) Die Gangmitglieder sind immer schwerer bewaffnet und Kalaschnikows sind weit verbreitet. Über 9.000 bewaffnete Überfälle gab es im vergangenen Jahr. 2) In den betroffenen Gebieten wurden bereits 15 Hochsicherheitszonen mit verstärkter Polizeipräsenz eingerichtet. Ohne Schutz traut sich kaum jemand in diese Gegenden. 3)

Marseille wird häufig als die Stadt Europas mit dem größten afrikanischen Einfluss bezeichnet. Viele Bewohner sind Einwanderer aus Afrika, vor allem aus den nordafrikanischen Ländern, deren Leben mit Armut verbunden ist. In den Wohngebieten im Norden Marseilles sind mehr als ein Drittel der Bewohner arbeitslos, was im besonderen Maße für Jugendliche zutrifft. Das schnelle Geld durch Drogenhandel zieht daher viele Jugendliche an. 4) Die meist minderjährigen Späher, die Ausschau nach Polizisten halten, verdienen bereits 100 Euro pro Tag. Als Dealer ist ein monatliches Einkommen von 10.000 Euro in Einzelfällen sogar 100.000 Euro möglich. Diese Aussichten sind gerade für Schulabbrecher attraktiv und in einigen Bereichen Marseilles haben zwei Drittel der Jugendlichen keinen Schulabschluss. 2)

Gefängnisstrafen und die Gefahr, in einem Bandenkrieg verwundet oder sogar getötet zu werden, schrecken junge Männer nicht ab. Der erhoffte Geldsegen wirkt anziehend und Alternativen sind nicht vorhanden. Bei Verhaftungen steht die gleiche Zahl an Nachwuchskräften schon bereit. Langfristig ist daher ein Ausbruch aus der sozialen Misere erforderlich, um Kriminalität und Gewalt bekämpfen zu können. Bessere Bildungsmöglichkeiten, eine bessere Betreuung von Kindern und Jugendlichen und wirtschaftliche Maßnahmen sind die Hoffnungen in Marseille.

Radikaler klingt die Einschätzung von Samia Ghali. „Nur noch das Militär kann in Marseille Ordnung schaffen“, sagt die Stadtteilbürgermeisterin, die 2014 für die sozialistische Partei bei den Bürgermeisterwahlen antreten will und als Tochter von Einwanderern selbst in einem Problemviertel aufgewachsen ist. Wieder bietet sich ein Vergleich mit Brasilien an, wo Soldaten die Polizisten bei der Entwaffnung von Drogenbanden unterstützen. Für diesen provokanten Vorschlag erntete sie zwar reichlich Kritik, unter anderem von der französischen Regierung. Die Problematik in Marseille konnte auf diese Weise aber nicht nur der Bevölkerung näher gebracht werden, sondern steht nun auch auf höchster politischer Ebene auf der Agenda und wurde zum Interesse nationaler Sicherheit erklärt. 5) Zunächst sollen über 200 weitere Polizisten in die Hafenstadt geschickt werden.

Im nächsten Jahr ist Marseille immerhin europäische Kulturhauptstadt, weshalb man dann besonders bemüht sein dürfte, ein gutes Bild abzugeben. Kulturhauptstadt klingt schließlich besser als Europas Hauptstadt des Verbrechens.

Fußnoten (Hinweise, Quellen, Links)

  1. Two shot dead in latest Marseille gang killing – France 24
  2. Tatort Marseille – Focus
  3. Bandenkrieg fordert weitere Opfer – Zwei Männer im Mietwagen in Marseille erschossen – Focus
  4. Mordserie in Marseille – Drogenkrieg am Mittelmeer – Spiegel
  5. Drogenkrieg in Marseille – Hemmungsloser Einsatz von Kriegswaffen – Süddeutsche Zeitung

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