Am 06. Dezember 2017 wurde einer der meistgesuchten Drogenkönige von Rio de Janeiro, Rogério Avelino da Silva, alias „Rogério 157“, bei einer Sicherheitsoperation in Brasiliens Hauptstadt festgenommen. Der massive Einsatz wurde laut der Pressemitteilung des Staatssicherheitssekretariats von Rio de Janeiro mit rund 3.000 Soldaten und Polizisten durchgeführt. Die Festnahme wirft jedoch die Frage auf, wie diese sich auf die kriminelle Dynamik in der zweitgrößten Stadt des Landes auswirken könnte.1
Eine bei der Operation anwesende Polizeibeamtin (Christina Bento), die auch die Verhaftung des Kriminellen koordinierte, teilte der Zeitung „The Guardian“ mit, dass „die Festnahme sehr wichtig für den Abbau des organisierten Verbrechens war“. Die Polizeibeamtin sagte gegenüber der brasilianischen Tageszeitung „O Globo“, dass „Rogério 157“ während der nächsten 24 Stunden in ein Hochsicherheitsgefängnis im Stadtteil Riccia von Rio de Janeiro und später in ein Bundesgefängnis außerhalb der Stadt gebracht werde.1
Polizeibeamte, die während der Verhaftung des Drogenkönigs mit anwesend waren, erklärten „O Globo“, dass Rogério unter strikter Beobachtung gewesen sei, bevor man ihn fasste. Die Verhaftung wurde durchgeführt, als da Silva aus einem Haus floh, wo er unter dem Schutz seiner Leibwächter stand und versucht hatte, sich in einem anderen Haus zu verstecken. Berichten zufolge hatte Rogério 157 sein Aussehen verändert, um sich einer Festnahme durch die Polizei zu entziehen. Er hatte auch vergeblich versucht, die Polizisten zu bestechen, damit man ihn aus der Haft entlassen könnte. Dennoch ließen sich die Polizeibeamten nicht in die Irre führen und gingen ihrer Arbeit nach. Jedoch posierten einige der Beamten nach der Verhaftung mit dem Gefangenen, um danach Fotos bzw. „Selfies“ mit ihm zu posten. Wegen dieses Vorgehens wurden die Beamten von einem Vorgesetzten als „aufgepumpt mit Adrenalin“ bezeichnet.1
Der Drogenbaron von Rio wurde wegen Mordes, bewaffneten Raubüberfällen, Erpressung und Drogenhandels gesucht. Die Behörden offerierten damals eine Belohnung von 15.000 US-Dollar für Informationen, die zu seiner jetzigen Erfassung führten. Nachdem er einen neuen Kampf um die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha, einem der größten marginalisierten Viertel der Stadt (auch bekannt als größte „Favela“), ausgerufen hatte, wurde er endgültig angeklagt. Der Ausbruch der Gewalt in Rocinha im September dieses Jahres, der zu einem massiven Verlust der Kontrolle durch die Polizei führte, war durch eine Konfrontation zwischen da Silva und seinem früheren Boss, Antonio Francisco Bonfim Lopes, alias „Nem“, ausgelöst worden. Trotz seiner Festnahme im Jahr 2011, leitet Nem immer noch seine Bande „Amigos dos Amigos“, die auch den Drogenhandel in Rocinha kontrolliert. Der brutale Revierkampf begann, als da Silva, der Nems früherer Leibwächter gewesen war, aus den Reihen der Bande ausbrach und sich mit dem Roten Kommando (Comando Vermelho), einem der ältesten und mächtigsten kriminellen Netzwerke Brasiliens, verband.1
Doch während die brasilianischen Behörden die Verhaftung des Drogenkönigs von Rio als einen Sieg gegen das organisierte Verbrechen feiern, erklärten Experten „InSight Crime“, dass seine Gefangennahme die bestehende kriminelle Kontrolle über Rocinha nicht störte und es sogar zu weiteren gewaltsamen Revierkonflikten kommen könnte. Desmand Arias, ein Professor an der George Mason Universität, teilte InSight Crime mit, dass die Behörden die Verhaftung von da Silva als eine „erfolgreiche Operation gegen jemanden sehen, der in der Stadt große Probleme macht“. Doch dieses bloße Argument anzuführen werde den Sicherheitskräften wenig helfen, in Rocinha die territoriale Kontrolle zurückzugewinnen oder die systematische Gewalt zu stoppen. „Roincha hat eine Geschichte von genau dieser Art von Spaltung zwischen rivalisierenden Banden-Fraktionen aufgrund der Größe und strategischen Bedeutung dieser Favela für den Drogenhandel und andere illegale Aktivitäten“, sagte er. Er stellt zum Bedauern fest, dass das Rote Kommando und die Amigos dos Amigos schon in der Vergangenheit um die Kontrolle über diesen Bereich gekämpft hatten und weiterhin kämpfen werden.1
Ein Mitarbeiter der Sicherheitsfirma „Amarate“, Júlio Altieri, sagte gegenüber InSight Crime, dass die beiden kriminellen Banden in absehbarer Zeit in der größten Favela der Stadt ihre jeweilige Kontrolle weiterhin pflegen werden. Laut ihm sind große Revierkämpfe jedoch unwahrscheinlich, wenn die Soldaten und Polizisten Rocinha weiterhin besetzen und die Aufmerksamkeit der Medien dort auch fest verankert bleibt. Er warnte aber davor, dass die bewaffneten Kämpfe um Territorium wieder aufgenommen werden könnten, da die Sicherheitskräfte sich letztlich aus dem Gebiet zurückziehen werden. Außerdem führte er auf, dass wenn eine der rivalisierenden kriminellen Gruppen die staatlichen Behörden erfolgreich unterwandert bzw. zweckentfremdet, es die Chance auf einen großen Revierkampf stark erhöhen würde. Laut Altieri wird da Silva, auch wie sein ehemaliger Chef und jetziger Rivale Nem, die Kontrolle über das umstrittene Territorium vom Gefängnis aus übernehmen. Er wird dabei größtenteils seine Macht aus seinen Beziehungen zum Roten Kommando nutzen, das seine illegalen Aktivitäten aus den Strafanstalten betreibt. Der Mitarbeiter von „Amarate“ fügte weiter hinzu, dass das Rote Kommando von allen verbrecherischen Gruppierungen das größte Arsenal an Waffen, Geld und Territorium besitzt und derzeit fast jede sogenannte Favela in der südlichen Zone Rio de Janeiros unter ihrer Kontrolle hat.1
Andererseits hat die Gruppe „Amigos dos Amigos“ „nicht den besten ihrer Momente erwischt“. Die Vereinigung verliert in einigen der Favelas, die sie einst kontrollierten, langsam ihre Macht und bekommt von anderen lokalen Gangs zunehmend weniger Unterstützung. Wiederum auf der anderen Seite zweifelt der Professor Arias an Rogérios Fähigkeit, Operationen aus dem Gefängnis aus zu starten, da er erst seine Loyalität dem Roten Kommando beweisen muss. Laut dem Professor hängt seine fortwährende Kontrolle auch von „seiner relativen Stärke innerhalb der Gang ab und davon, wie sehr die Mitglieder der Bande bereit sind, für ihn zu kämpfen, sowie von seiner Popularität in Rocinha“.1
Ein anonymer Bewohner von Rocinha, der mit „The Guardian“ sprach, bekräftigte die Aussagen von Altieri und Arias: „Wenn diese Leute eingesperrt sind, gibt es keine Unterbrechung ihres Kommandos. Die Leute sind besorgt, weil der Krieg in Rocinha nicht mit der Verhaftung von 157 beendet wurde. Und die Folge dieser Festnahme wird mehr Konfrontation sein, mehr Streit um Territorium.“1